Der Staat ist verschwunden, die Menschen, die in ihm lebten nicht. Sie leben weiter mit ihren Erfahrungen und Erinnerungen, Erwartungen und Enttäuschungen in einem Staat, der vorgab, der Sieger der Geschichte zu sein. 2025 legt Christoph Hein, der in der DDR den Staat und die Gesellschaft kritisch begleitete, einen Roman vor, der mittlerweile schon in der 5. Auflage erschienen ist. „In seinem fulminanten Gesellschaftsroman lässt Christoph Hein Frauen und Männer aufeinandertreffen, denen bei der Gründung der DDR unterschiedliche Rollen zuteilwerden, begleitet sie durch die dramatischen Entwicklungen einer … Gesellschaft, die das bessere Deutschland zu repräsentieren vermeint und doch von einem Scheitern zum nächsten eilt.“ (Klappentext)
Das Bild des Narren durchzieht den ganzen Roman wie ein roter Faden. Der Roman ist lesenswert, gerade dann, wenn man sich ein Bild machen möchte sowohl vom subjektiv erlebten Alltag als auch von den historischen Abläufen in dem untergegangenen Staat. Dass die Historizität der Ereignisse im Roman an manchen Stellen umstritten ist, muss hier nicht weiter interessieren.
Hein stellt seine Figuren nicht zur Schau, sondern schildert ihre Lebensläufe in einem Land, dessen politischen (ideologischer Stalinismus) und sozioökonomischen (Rumpfstaat mit abgetrennten Gebieten im Osten und einem wirtschaftlich deutlich stärkeren westlichen Bruderstaat) Voraussetzungen denkbar schlecht waren. Selbst tragende Führerpersönlichkeiten wie Karsten Emser, der als ausgewiesener Professor für Ökonomie im Zentralkomitee der SED Sitz und Stimme hat, wird innerlich zerrieben zwischen seinem Sachverstand und den starren ideologischen Vorgaben der Führungsspitze. Der andere Protagonist der Gründerzeit, Johannes Goretzka, einst Nazi und in russischer Kriegsgefangenschaft zum überzeugten Kommunisten mutiert, verliert gar seine Spitzenfunktion in der Partei, wird kaltgestellt, weil er es wagt, den Kurswechsel der Partei zu kritisieren, obwohl er sachlich gesehen die besseren Argumente auf seiner Seite hat. Beide Figuren beschleicht die Ahnung, Narren zu sein, die ein närrische Spiel mitzuspielen. Hein stellt sie dabei nicht an den Pranger, sondern inszeniert sie eher als tragische Vertreter einer Partei, die die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen will. Auch die anderen Figuren des Romans versuchen mehr oder weniger hilflos, sich in der realsozialistischen Realität zurechtzufinden.
Die Lektüre des Buchs ist unbedingt lesenswert. Für mich hatte der Ort, an dem ich war, einen starken Einfluss auf das Leseerlebnis.
Wie war das also für mich als Westdeutscher, den Roman zu lesen, in der Stadt, in Bad Frankenhausen, wo vor genau 500 Jahre die berühmte Schlacht im Bauernkrieg mit Thomas Müntzer stattfand? Während der 5 wöchigen Urlaubsvertretung im Kirchenkreis Bad Frankenhausen/Sondershausen bestand meine Aufgabe vornehmlich darin, an den Sonntagen Gottesdienst zu halten. Hier und bei anderer Gelegenheit kamen ich und meine Frau in Gespräch mit den Menschen vor Ort. Dabei hörten wir oft Geschichten aus diesem untergegangenen Land.
Erinnerungen bestehen nicht aus der Zusammenstellung von Ereignissen. Erinnerungen sind Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen und indem wir sie uns erzählen, gestalten wir sie. Was ich hier gelernt habe, ist der Respekt gegenüber dem, was die Menschen erlebt haben: Die Richterin, die auch Fälle von Grenzverletzungen verhandelt hat, und die sichtlich bemüht war, ihre Tätigkeit in den Zusammenhang mit den staatlichen Gegebenheiten zu stellen, der ehemalige Soldat der NVA, der unehrenhaft entlassen wurde, warum weiß ich nicht im Detail, dem nahe gelegt wurde, sich von seiner Frau scheiden zu lassen wegen ihrer Westkontakte, die schwierigen Versuche der evangelischen Kirche, den Einfluss der extremistischen AFD In den Kirchenvorständen klein zuhalten, das Leiden vornehmlich der alten Menschen, die erleben müssen, wie ihre Dörfer sterben und ihre Kinder weit weg wohnen, die Gemeindeglieder, die treu den Gottesdienst besuchen (an manchen Sonntagen betrug der prozentuale Anteil ungefähr 25% der offiziell eingetragenen Mitglieder der Gemeinde), aber trotzdem erleben, wie schwierig es ist, das Gemeindeleben aufrecht zu erhalten, der pensionierte Abgeordnete, der jede Form von staatlicher Bevormundung angesichts seiner Erfahrungen mit der DDR ablehnt … (In einer Predigt ging es um das Bild von den Schwertern zu Pflugscharen. Natürlich hatte die Predigt, ohne eine politische zu sein, politische Dimensionen. Als ich auf die Geschichten zu sprechen kam, die Machthaber den Menschen erzählen, um ihre Ideologien mit Gewalt umzusetzen, hatten manche Gemeindeglieder Tränen in den Augen. Ob ihnen die Zeit des real existierenden Sozialismus in den Sinn kam?) Die Begegnungen mit den Menschen haben mir wieder gezeigt, wie wichtig es ist, die eigenen Bilder im Kopf in Frage zu stellen. Was ich schon vorher wusste, bestätigte sich was hier: Vorurteile bleiben Vorurteile, solange man sich nicht bemüht, sie in Kontakt mit der Wirklichkeit zu bringen. Und dazu braucht es Begegnungen.
Und nun nochmal das Narrenschiff. Im Panoramamuseum oben auf dem Schlachtberg in Bad Frankenhausen befindet sich das monumentale Rundgemälde, das die DDR 1974 in Auftrag gab und von Werner Tübke realisiert wurde. Im Mittelpunkt steht Thomas Müntzer, in der DDR zum kommunistischen Vordenker stilisiert wurde. Immerhin war sein Konterfei auf den 5 Mark Scheinen gedruckt. Tübke widersetzt sich den Vorgaben der Gestaltung eines heroischen Wandgemäldes und zeigt Müntzer als resignierten Prediger, der erleben musste, wie binnen Stunden seine Träume einer besseren, von Gott aufgerichteten Ordnung zerplatzten. Auch er ein Narr? Ich finde die Figur des Narren inspirierend. Auf dem Monumentalbild ist ein Schiff zu sehen, das auf dem Trockenen liegt mit mehreren Personen darauf. Sie repräsentieren die Vertreter der alten Zünfte, die nicht begreifen wollen, wie sehr sich die Welt verändert hat. Narren, die nicht anerkennen wollen, wie ihr geschäftliches Treiben ins Nichts führen. 2 Jahre nach Fertigstellung des Bildes ging die DDR unter - und wohin segeln wir?
Es gibt allerdings eine Interpretation der Figur des Narren, die subversiv den Blick nach vorne lenkt und aus der Resignation führt. Wir sind Narren um Christi willen, schreibt Paulus, und vollzieht damit einen Perspektivwechsel. Die vorherrschende Weisheit der Welt nützt vor allem den unfassbar Reichen und Mächtigen. Ihr Spiel mitzumachen, erscheint ohne realistische Alternative, erweist sich am Ende aber als ziemlich närrisch. Wer der Weisheit Christi folgt, steht zunächst als Narr da, der das Spiel nicht mitspielen will. Das mag sein, aber zu mindestens durchschaut er das närrische Treiben. Im Roman ahnten die beiden alten Hauptprotagonisten etwas davon. Am Ende allerdings bleibt ihnen aber nur der Tod, gerade in dem geschäftlichen Moment, indem das sozialistische System zusammenfällt. Ob wir heute, ganz gleich ob in Ost oder West, klüger sind? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, wie wichtig es ist, Begegnungen zu suchen und gemeinsam um den Kurs zu ringen, der uns auf einen guten Weg bringt.
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